Die Bedeutung von Stress: Von der physikalischen Spannung zum psychologischen Phänomen
Der Begriff Stress stammt ursprünglich aus der Physik und bezeichnet die mechanische Spannung, die auf einem Material lastet. Erst 1936 wurde der Begriff in die Medizin und Psychologie übertragen (Heinrichs et al., 2015). In der Umgangssprache wird sowohl der Auslöser (Stressor) als auch die körperliche Auswirkung oder psychische Befindlichkeit (Stressreaktion) als Stress bezeichnet (Nater et al., 2021). Über 80% der deutschsprachigen Bevölkerung leidet subjektiv gelegentlich unter Stress; ca. 30% sogar häufig bis ständig, ohne ausreichende Bewältigungsmethoden, um sinnvoll mit dem Stresserleben umzugehen (Heinrichs et al., 2015). Heinrichs und seine Kolleg:innen weisen auch auf die Folgen hin: Stress gilt als Risikofaktor für die Entstehung verschiedener psychischer, psychosomatischer und somatischer Erkrankungen. Beispielweise trägt Stress zur Entstehung von Panikattacken bei (Heinrichs et al., 2015).
Was ist Stress? Das Transaktionale Stressmodell und die physiologischen Reaktionen auf Stress im Körper und im Gehirn
Das wohl bekannteste Modell zur Erklärung von Stress ist das transaktionale Stressmodell von Lazarus und Folkman (1984). Dieses Modell besagt, dass Stress entsteht, wenn eine Person eine Situation oder ein Ereignis als herausfordernd, bedrohlich oder schädigend (primary appraisal) einschätzt und die durch innere oder äußere Bedingungen gestellten Anforderungen als die eigenen Ressourcen beanspruchend oder übersteigend wahrnimmt (secondary appraisal). Das bedeutet, dass die subjektive Bewertung der stressauslösenden Situation und die Verfügbarkeit von Bewältigungsstrategien entscheiden, ob Stress entsteht.
Entsteht Stress, passt sich der Körper der herausfordernden Situation an, indem das Hormon Adrenalin im Körper ausgeschüttet wird (Zalpour, 2010). Aufgrund der schnellen Wirkung wird dies als schneller Stressweg bezeichnet. Das Hormon Cortisol wird ebenfalls im Körper ausgeschüttet (Zalpour, 2010), erreicht jedoch seine höchste Konzentration erst nach 20 bis 30 Minuten (Ramsay & Lewis, 2003) und wird deshalb als langsamer Stressweg bezeichnet. Das Hormon und der Neurotransmitter Noradrenalin werden im Gehirn ausgeschüttet (Schwarz & Lou, 2015). Adrenalin wirkt nur im Körper, Cortisol im Körper und im Gehirn, und Noradrenalin nur im Gehirn. Die Anpassungsreaktion des Körpers an die herausfordernde Situation führt dazu, dass im Körper Energie freigesetzt wird und das Gehirn in einigen Bereichen seine Leistungsfähigkeit steigern kann, um die Situation bewältigen zu können.
Die Stärke des Erregungsniveaus bzw. Anspannungsniveaus hat einen Einfluss auf die kognitive Leistungsfähigkeit des Gehirns bei zielgerichteten Aufgaben (Prüfungen, Vorträge, etc.): Ein mittelstarkes Erregungsniveau geht mit optimaler kognitiver Leistungsfähigkeit des Gehirns einher (Valentino & Van Bockstaele, 2008). Das bedeutet, dass eine zu starke oder zu niedrige Anspannung vor einer herausfordernden Situation sich negativ auf die kognitive Leistungsfähigkeit des Gehirns auswirken kann. Eine passende Stressreaktion kann dementsprechend grundsätzlich eine gute und sinnvolle Reaktion des Körpers auf eine herausfordernde Situation darstellen, während eine zu starke Stressreaktion eher hinderlich ist.
Von individuellen Belastungen bis zu gesellschaftlichen Konsequenzen
Problematisch sind die Auswirkungen von Stress, wenn die Stressreaktionen zu stark werden und/ oder nicht mehr abklingen können, sondern sich mehrere Stressreaktionen anhäufen und chronifizieren.
Anhaltendes Stresserleben kann zu weitreichenden Folgen auf verschiedenen Ebenen führen, wie Milek und Bodenmann (2018) zusammenfassen: Die Person empfindet Nervosität oder Angst. Zudem geht anhaltender Stress oft mit psychischen und körperlichen Beschwerden einher und kann sogar schwerwiegende körperliche (z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen) und psychische Erkrankungen (z.B. Anpassungsstörungen oder Panikstörungen) begünstigen. Auf familiärer Ebene kann ein anhaltendes Stresserleben zu Partnerschaftskonflikten führen, auf gesellschaftlicher Ebene zu Fehlzeiten am Arbeitsplatz oder zu Kosten für das Gesundheitssystem.
Anwendung des biologischen Begriffs Sensitivierung auf psychischen Stress
Sensitivierung beschreibt einen biologischen Lernprozess, bei dem sich die Reaktion auf eine wiederholte Reizdarbietung verstärkt (Becker-Carus & Wendt, 2017). Veranschaulichen wir die Sensitivierung an einem Beispiel: Eine Person hat Schmerzen. Bei einer Verletzung kann wiederholte Berührung zu zunehmend stärkeren Schmerzen führen, da das Gehirn signalisiert, dass das verletzte Körperteil geschont werden soll. Dies führt dazu, dass auch andere Reize (leichte Berührungen), die normalerweise eine geringe Reaktion auslösen würden (Berührungsempfinden auf der Haut), plötzlich eine stärkere Reaktion hervorrufen (starke Schmerzen).
Versuchen wir, das biologische Prinzip auf psychischen Stress zu übertragen: Wenn das Grundstresslevel erhöht ist, beispielsweise aufgrund täglicher Belastungen oder besonderer Ereignisse (Ansammlung an Daily Hassles oder Live-Events), kann eine Situation, die normalerweise eine geringe Reaktion auslösen würde, plötzlich eine deutlich stärkere Reaktion hervorrufen. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass Alltagssituationen (Kaffee verschüttet wird), die unter normalen Umständen keine starke Reaktion auslösen würden, unter erhöhtem Stresslevel zu intensiveren emotionalen Reaktionen führen können (Ausrasten, Wutausbruch).
Auswirkungen von (starkem oder chronischem) Stress auf das Gehirn: Cortisol, Gedächtnis und strukturelle Veränderungen
Das Hormon Cortisol kann (bei hoher Cortisol-Konzentration) die Aktivität des Gedächtnisareals Hippocampus hemmen, sodass in Prüfungssituationen gelernte Inhalte nicht mehr abgerufen werden können (Joëls & Baram, 2009), was zu dem Phänomen Blackout führen kann. Zudem zeigen Vythilingam et al. (2005), dass sich das Hippocampusvolumen umso stärker reduziert, je intensiver oder länger die Person Stress ausgesetzt war. Psychologischer Stress reduziert ebenfalls die Performance und Aktivität des Arbeitsgedächtnisses (Quien et al., 2008). 5 Stunden Stress führten in einem Mäuseversuch zu einer Verminderung der Dornfortsätze (Ausstülpungen der Nervenzellen) (Chen et al., 2008), verändern also die Nervenzellen. Weiter kann Stress zu morphologischen Veränderungen (Veränderungen der Form und Anordnung von zellulären Bestandteilen des Gehirns) (Kim & Yoon, 1998) und somit zu strukturellen Veränderungen führen. Auch führt chronischer Stress zu einer gesteigerten Erregbarkeit von Amygdala-Neuronen, die möglicherweise das Auftreten von Depressionen oder Angstzuständen bei Patienten fördern (Rosenkranz et al., 2010). Außerdem kann Stress ein Ungleichgewicht der neuronalen Schaltkreise verursachen, die Kognition, Entscheidungsfindung, Angst und Stimmung beeinflussen (McEwen, 2017). Stress kann also das Gehirn direkt schädigen!
Zu starker und zu langanhaltender bzw. chronischer Stress geht dementsprechend mit Veränderungen und Leistungseinbußen des Gehirns einher, sodass ungesunder Stress auf jeden Fall vermieden werden sollte!
Strategien gegen Stress: Stressbewältigung nach Lazarus & Folkman, Stressimpfungstraining und präventive Ansätze für mehr Stresstoleranz
Nach Lazarus und Folkman (1984) gibt es zwei Wege der Bewältigung von Stress: Entweder die stressauslösende Situation wird geändert (instrumentelle Stressbewältigung), oder der Bezug zur Situation wird geändert (kognitive Stressbewältigung). Wenn beispielsweise Stress entsteht, weil der Zug ausfallen wird, könnte die betroffene Person rechtzeitig mit dem Auto fahren (instrumentell) oder mit dem Folgezug fahren und sich bewusst machen, dass es keine großen Nachteile und Konsequenzen haben wird, ein paar Minuten zu spät zur Vorlesung zu kommen (kognitiv).
Das Stressimpfungstraining (SIT) von Donald Meichenbaum (1985) baut auf dem transaktionalen Stressmodell (Lazarus & Folkman, 1984) auf und wird sowohl in der Prävention als auch in der Psychotherapie eingesetzt. Die Stressimpfung dient hier als Metapher für die Impfung von psychologischen Antikörpern. Diese Antikörper oder auch Ressourcen werden durch das Training aufgebaut und sollen die Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress erhöhen. Das SIT beinhaltet drei Phasen:
• Phase 1: Informationsphase: Das transaktionale Stressmodell nach Lazarus wird erklärt (Psychoedukation); eigene Stressreaktionen und Bewältigungsmethoden werden analysiert
• Phase 2: Lern- und Übungsphase: Erlernen neuer und effektiverer Bewältigungsstrategien
• Phase 3: Anwendungs- und Posttrainingsphase: Transfer in den Alltag
Die Phasen des Trainings können auch außerhalb eines Präventionsprogramms im Rahmen einer Selbstreflexion genutzt werden, um einen neuen und besseren Umgang mit stressigen Situationen zu finden. Weitere präventive Möglichkeiten, um die eigene Stresstoleranz zu stärken, sind Achtsamkeitsübungen, (Ausdauer-) Sport, Meditationen und E-Health-Angebote (z.B. Apps auf dem Handy wie 7 Mind). Auf den Websites der jeweiligen Krankenkassen sind Kurse und E-Health-Angebote angegeben, die von der Krankenkasse bezuschusst oder übernommen werden.
Ebenfalls scheint ein gesundes Mikrobiom im Darm (Gesamtheit des genetischen Materials aller Organismen im Darm) einen stressmindernden Effekt zu haben (Crumeyrolle-Arias et al., 2014). In einem Rattenexperiment konnte gezeigt werden, dass Ratten mit einem Fehlen des Mikrobioms eine höhere Stressreaktion und Ängstlichkeit zeigten als Ratten mit einem normalen Mikrobiom. Dies gilt als Hinweis darauf, dass ein gestörtes Mikrobiom bei einem Stressor zu einer höheren Stressreaktion und ängstlichem Verhalten führen könnte (Crumeyrolle-Arias et al., 2014). Daher sollte bei chronischen Verdauungsproblemen und dem Verdacht eines gestörten Mikrobioms auch aus diesem Grund dringend ein Arzt aufgesucht werden.
Literaturverzeichnis:
Becker-Carus, C., & Wendt, M. (2017). Lernen. In Allgemeine Psychologie Eine Einführung (2. Auflage). Springer. ISBN: 978-3-662-53005-4
Crumeyrolle-Arias, M., Jaglin, M., Bruneau, A., Vancassel, S., Cardona, A., Daugé, V., Naudon, L., & Rabot, S. (2014). Absence of the gut microbiota enhances anxiety-like behavior and neuroendocrine response to acute stress in rats. Psychoneuroendocrinology, 42, 207–217. https://doi.org/10.1016/j.psyneuen.2014.01.014
Heinrichs, M., Stächele, T., & Domes, G. (2015). Stress und Stressbewältigung. Hogrefe Verlag GmbH & Company KG. ISBN: 978-3-8409-2252-7
Jeansok J Kim; Kenneth S Yoon (1998).Stress: metaplastic effects in the hippocampus. , 21(12), 0–509. doi:10.1016/s0166-2236(98)01322-8
Joëls, M., & Baram, T. Z. (2009). The neuro-symphony of stress. Nature Reviews Neuroscience, 10(6), 459–466. https://doi.org/10.1038/nrn2632
Lazarus, R. S. & Folkman, S. (1984). Stress, appraisal, and coping. New York, NY: Springer.
McEwen, Bruce S. (2017). Neurobiological and Systemic Effects of Chronic Stress. Chronic Stress, 1(), 247054701769232–. doi:10.1177/2470547017692328
Meichenbaum, D. (1985). Stress inoculation training. Elmsford, NY: Pergamon Press.
Milek, A., & Bodenmann, G. (2018). Stressbewältigung. In Lehrbuch der Verhaltenstherapie Band 2 Psychologische Therapie bei Indikationen im Erwachsenenalter (4. Auflage). Springer. ISBN: 978-3-662-54908-7
Nater, U. M., Ditzen, B., & Ehlert, U. (2021). Psychosomatische und stressbedingte körperliche Beschwerden. In Klinische Psychologie und Psychotherapie (3. Auflage). Springer. ISBN: 978-3-662-61813-4
Qin, S., Hermans, E. J., Van Marle, H. J. F., Luo, J., & Fernández, G. (2009). Acute Psychological Stress Reduces Working Memory-Related Activity in the Dorsolateral Prefrontal Cortex. Biological Psychiatry, 66(1), 25–32. https://doi.org/10.1016/j.biopsych.2009.03.006
Ramsay, D., & Lewis, M. (2003). Reactivity and Regulation in Cortisol and Behavioral Responses to Stress. Child Development, 74(2), 456–464. https://doi.org/10.1111/1467-8624.7402009
Rosenkranz, J. A., Venheim, E. R., & Padival, M. (2010). Chronic Stress Causes Amygdala Hyperexcitability in Rodents. Biological Psychiatry, 67(12), 1128–1136. https://doi.org/10.1016/j.biopsych.2010.02.008
Schwarz, L. A., & Luo, L. (2015). Organization of the Locus Coeruleus-Norepinephrine System. Current Biology, 25(21), R1051–R1056. https://doi.org/10.1016/j.cub.2015.09.039
Valentino, R. J., & Van Bockstaele, E. (2008). Convergent regulation of locus coeruleus activity as an adaptive response to stress. European Journal of Pharmacology, 583(2–3), 194–203. https://doi.org/10.1016/j.ejphar.2007.11.062
Vythilingam, M., Luckenbaugh, D. A., Lam, T., Morgan, C. A., Lipschitz, D., Charney, D. S., Bremner, J. D., & Southwick, S. M. (2005). Smaller head of the hippocampus in Gulf War-related posttraumatic stress disorder. Psychiatry Research: Neuroimaging, 139(2), 89–99. https://doi.org/10.1016/j.pscychresns.2005.04.003
Zalpour, Christoff. (2010). Anatomie Physiologie. Urban & Fisher.