von Voelkner & Radßat GbR
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13. Januar 2025
In dieser Folge von "Psychologie am Kaffeetisch" werfen wir einen frischen Blick auf das Thema Depression. Wir integrieren neue Forschungsergebnisse, um die Bedeutung neurobiologischer Besonderheiten bei psychischen Erkrankungen zu verdeutlichen. Darüber hinaus setzen wir uns intensiv mit der Abgrenzung der Begriffe Depression und Burnout auseinander und diskutieren kritisch Aspekte des aktuellen Klassifikationssystems ICD-10. Depression als Volkskrankheit Bei der psychischen Störung Depression handelt es sich um eine Volkskrankheit, denn die Lebenszeitprävalenz für Deutschland liegt bei 17,1% (Jacobi et al., 2004). Das bedeutet, dass etwa 17 von 100 Menschen in Deutschland im Laufe ihres Lebens einmal an einer depressiven Störung erkranken. In Anbetracht dessen, dass 42,6% der Menschen in Deutschland im Laufe ihres Lebens generell psychisch erkranken (Jacobi et al., 2004), macht das Störungsbild Depression einen großen Anteil aus. Thom et al. (2007) zeigen, dass mehr Frauen als Männer an dem Störungsbild Depression erkranken. Zudem gibt es laut Thom et al. (2007) einen Alterspeak des Störungsbildes bei 45-64 Jahren, und es sind doppelt so viele Menschen des unteren Bildungsniveaus betroffen als Menschen des oberen Bildungsniveaus. Depression: Störungsbild Depression ist ein komplexes Störungsbild, das aus einer Vielzahl von psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen besteht (Hautzinger, 1998). Psychische Beeinträchtigungen können unter anderem eine negative Stimmung, Niedergeschlagenheit, emotionale Leere, Hoffnungslosigkeit, Antriebslosigkeit, Interessenverlust sowie den Verlust von Freude sein. Körperliche Beeinträchtigungen können unter anderem Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Gewichtsverlust, körperliche Anspannung und Unruhe, Libidoverlust und Schmerzen umfassen. Ein bedeutender Bestandteil der Depression ist die kognitive Komponente, bei der es sich um dysfunktionale Denkmuster, Grübeln (über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft), Katastrophisieren, Pessimismus und eine negative Einstellung gegenüber sich selbst handelt (Hautzinger, 1998). Nicht jedes Symptom muss in gleicher Intensität bei jedem Patienten mit dem Störungsbild Depression auftreten, denn die Symptome des Störungsbildes sind heterogen (Hautzinger, 1998). Ein Fallbeispiel aus dem Buch Klinische Psychologie & Psychotherapie von Beesdo-Baum & Wittchen (2021) zur Veranschaulichung des Störungsbildes erläutern wir in der Podcast-Folge. Nach dem aktuellen Klassifikationssystem (ICD-10) können verschiedene Störungen klassifiziert werden, bei denen Symptome der Depression auftreten (Dilling & Freyberger, 2019). Im Kapitel „F3 Affektive Störungen“ des ICD-10 sind folgende Störungen aufgeführt, die alle Symptome der Depression beinhalten: Depressive Episode im Rahmen einer bipolaren Störung, die depressive Episode an sich (leicht, mittel, schwer mit bzw. ohne psychotische Symptome), rezidivierende depressive Störung (wiederkehrende depressive Episoden = mehr als einmal) und anhaltende affektive Störung (quasi-chronische Depression). Auch Störungen anderer Kapitel des ICD-10 wie z.B. die Anpassungsstörung, die Schizophrenie (Negativsymptomatik) oder auch die postschizophrene Depression und die schizoaffektive Störung beinhalten Symptome der Depression. Es gibt viele Überschneidungen zwischen den Diagnosen, sodass es nicht möglich ist anhand weniger einzelner Symptome eine Depression zu diagnostizieren. Jede Störung hat klare Diagnosekriterien, daher sind Selbstdiagnosen nicht valide oder zuverlässig. Eine Diagnose sollte daher immer von einem Psychologen oder Psychotherapeuten mittels klinischen Interviews gestellt werden. Zusätzlich kann die Depression häufig komorbid auftreten, das heißt zusammen mit anderen Störungen. Daher ist eine ganzheitliche Diagnostik wichtig, um die richtige Behandlung zu wählen und den individuellen Bedürfnissen des Patienten gerecht zu werden. Abgrenzung der Depression zu Burnout Burnout ist ein weit verbreiteter Begriff, den viele Menschen verwenden, um sich selbst zu diagnostizieren, wenn sie aufgrund von zu langer und zu hoher Belastung "ausgebrannt" sind und ihrer beruflichen Tätigkeit nicht mehr nachgehen können. In seinem Buch Burnout oder Depression? (2017) fasst Schulz die bis dahin erforschten Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Depressionen und Burnout zusammen. Eine allgemeingültige Definition für ein Burnout gibt es tatsächlich nicht (Schulz, 2017). Jedoch konnte man sich auf zwei Merkmale für ein Burnout einigen: das Vorliegen einer psychischen und körperlichen Erschöpfung einerseits und das Vorhandensein von reduzierter Leistungsfähigkeit andererseits. Es ist nicht einmal geklärt, ob Burnout als psychische Krankheit angesehen wird. Im ICD-10 ist es nicht als psychische Störung codiert, und auch im ICD-11 wird es nur als Syndrom, aber nicht als Störung, aufgenommen. Der Begriff Burnout hat Vor- und Nachteile. Ein Vorteil ist, dass einige Menschen eher akzeptieren würden, dass sie ein Burnout haben, anstelle einer psychischen Krankheit. Diese Menschen würden daher Hilfe suchen. Auf der anderen Seite haben aber auch viele Menschen, die sich selbst ein Burnout diagnostizieren, eine andere psychische Krankheit, die anders behandelt werden müsste. In der Akutphase können sich die Symptome des Störungsbildes Depression und die des Burnoutsyndroms ähneln. Doch gibt es einige Unterschiede, durch die sich die beiden Zustände abgrenzen lassen (Schulz, 2017): Das Grübeln beim Burnoutsyndrom bezieht sich auf Leistungseinbußen, während das Grübeln bei der Störung Depression Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betrifft. Der Erschöpfungszustand einer Person mit dem Burnoutsyndrom ergibt sich aus einem Mangel an energetischen Ressourcen, während der Erschöpfungszustand bei der Störung Depression aufgrund einer Antriebshemmung auftritt. Neuroendokrinologisch betrachtet liegt beim Burnoutsyndrom ein Mangel an Cortisol vor, während bei der Störung Depression ein Überschuss an Cortisol vorhanden ist. Diese Auswahl an Unterschieden verdeutlicht, dass Depression und Burnoutsyndrom zwar überlappende Symptome haben können, aber grundsätzlich voneinander abgrenzbare Zustände sind. Depression: Die Entstehung des Störungsbildes Serotonin ist ein Neurotransmitter, der vergänglich häufig mit der Entstehung des Störungsbildes Depression in Verbindung gebracht wurde. Die Hauptbereiche der Serotonin-Forschung liefern allerdings keine konsistenten Hinweise darauf, dass es eine Verbindung zwischen dem Neurotransmitter Serotonin und Depression gibt, und keine Unterstützung für die Hypothese, dass Depression durch eine verringerte Serotonin-Aktivität oder Konzentration verursacht wird (Moncrieff et al., 2022). Derzeit werden neue Erklärungsansätze zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Depression diskutiert wie das Symptomnetzwerkmodell (van der Wal et. al., 2021) und das Gehirnnetzwerkmodell (Kaiser et al., 2015). Symptomnetzwerkmodell Die Grundidee des Symptomnetzwerkmodelles ist eine ganzheitliche und zusammenhängende Betrachtung von Symptomen wie die der Depression und den auslösenden Faktoren. Psychiatrische Symptome werden demnach nicht als die Auswirkung einer gemeinsamen Ursache wie die auslösenden Faktoren für eine psychische Störung gesehen, sondern als ein zusammenhängendes Netzwerk, deren einzelne Bestandteile (bspw. Symptome und auslösende Faktoren) miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig beeinflussen (Borsboom, 2017). Nach Borsboom (2017) wird unterschieden zwischen einem Symptom-Netzwerk und einem externen Netzwerk. Das externe Netzwerk beinhaltet auslösende Faktoren für das Störungsbild wie bestimmte Lebensbedingungen. Veränderungen im externen Netzwerk (wie z.B. ein Arbeitsplatzverlust) können Symptome im Symptom-Netzwerk (Symptome einer psychischen Störung) aktivieren. Da die Symptome miteinander verbunden sind und sich somit gegenseitig aktivieren, kann ein psychisches Störungsbild auch dann aufrechterhalten bleiben, wenn die auslösenden Faktoren aus dem externen-Netzwerk nicht mehr vorhanden sind (Borsboom, 2017). Psychische Störungen können demnach als ein Prozess der sich ausbreitenden Aktvierung in einem Symptomnetzwerk betrachtet werden (Borsboom, 2017). Van der Wal et al., (2021) stellen in ihrem Artikel ein Symptomnetzwerkmodell für die Depression dar. Das Symptomnetzwerk beinhaltet Symptome der Depression und das externe Netzwerk Faktoren des städtischen Lebens, die Einfluss auf die Depression haben. Das Modell basiert auf erhobenen Daten. Die Zusammenhänge zwischen den Bestandteilen des Modells sind durch unterschiedlich dicke Linien dargestellt. Je dicker die Linie, desto stärker der auf Basis der Daten errechnete Zusammenhang. Bspw. zeigt das Modell, dass das Alleine-Fühlen (externes Netzwerk) stark verbunden ist mit dem Symptom Traurig-Fühlen (Symptomnetzwerk). Das Symptom Traurig-Fühlen ist stark verbunden mit dem Symptom Irritiert-sein. Nach der Grundidee des Symptomnetzwerkmodells (Borsboom, 2017) kann das Alleine-Fühlen das Symptom der Depression Traurig-Fühlen auslösen und das Symptom Traurig-Fühlen dann das Symptom Irritiert-Sein. Da die Symptome (unterschiedlich stark) miteinander verbunden sind und sich gegenseitig aktivieren und aktiviert halten, können die Symptome (Symptom-Netzwerk) auch noch aktiviert sein, wenn die depressive Person sich nicht mehr allein fühlt (externes Netzwerk). Möglich ist die Entstehung einer chronischen Depression. Gehirnnetzwerkmodell Im Gehirn sind Neurone, also Nervenzellen, miteinander verbunden, aber nicht jede Nervenzelle ist mit jeder anderen verbunden. Diese Verbindungen zwischen den Neuronen bilden spezifische Netzwerke oder Bereiche im Gehirn, die miteinander kommunizieren. Konnektivität bedeutet, dass die Aktivitätsmuster dieser verbundenen Gehirnbereiche synchron sind. Das heißt, wenn eine Region aktiv ist, ist auch die verbundene Region aktiv. Diese Verbindungen können sowohl anatomisch (nach Struktur) als auch funktionell (nach Funktion) abgegrenzt werden. Die Konnektivität zwischen den Gehirnbereichen ist entscheidend für die Funktionsweise des Gehirns, da sie sicherstellt, dass verschiedene Gehirnregionen zusammenarbeiten, um spezifische Handlungen oder Funktionen zu ermöglichen. Hirnnetzwerke stellen demnach Bereiche von Nervenzellen im Gehirn dar, die stark miteinander verbunden sind und stark miteinander kommunizieren. Auf Basis von erhobenen Daten schlägt Menon (2011) ein Modell mit drei Netzwerken für die Erklärung von psychischen Störungen vor. Den jeweiligen Netzwerken konnten bestimmte Funktion zugeordnet werden. Das SN-Netzwerk ist für Bedeutungszuweisung zuständig. Die in diesem Netzwerk beteiligten Hirnbereiche entscheiden, was gerade relevant ist und kann jeweils eines der beiden weiteren Netzwerke (CEN und DMN) einschalten. Ist das CEN aktiv, so ist das DMN inaktiv und andersrum. Das CEN ist für kognitive Fähigkeiten (z. B. Arbeitsgedächtnis) in Verbindung gebracht worden und das DMN mit selbstbezogener geistiger Aktivität (z. B. Nachdenken, Grübeln). Mehrere Studien konnten auf Basis von Daten nachweisen, dass es bei der depressiven Störung zu Veränderung in dem Netzwerkmodell nach Menon (2011) kommt. Bei schwerer depressiver Störung wurde eine übermäßige Vernetzung innerhalb des (DMN) festgestellt (Kaiser et. al., 2015). Die übermäßige Vernetzung dieses Netzwerks könnte zu einer stärkeren Aktivität des Netzwerks und einem damit verbundenen stärkeren Grübeln führen, ein Symptom der Depression. Weiter konnten Hamilton et al. (2016) nachweisen, dass depressive Patienten eine übermäßige Reaktion von Bestandteilen des SN auf negative Reize zeigen. Da das SN für Bedeutungszuweisung und das Einschalten des DMN bzw. des CEN verantwortlich ist, wird dies sehr wahrscheinlich auch Auswirkung auf diese Funktion haben. Die depressive Störung kann demnach als eine komplexe Störung von Hirnnetzwerken verstanden werden und nicht lediglich als ein Mangel des Neurotransmitters Serotonin. Folgen von Depressionen Das Störungsbild Depression geht mit einem erhöhten Suizidrisiko und der Möglichkeit einer Chronifizierung einher (Beesdo-Baum & Wittchen, 2021). Wenn eine depressive Störung abgeklungen ist, besteht ein erhöhtes Risiko dafür, dass es erneut zu einem Störungsausbruch kommt (Beesdo-Baum & Wittchen, 2021. Chronifizierung der Depression Ca. 25-30% aller unipolaren Depression in Deutschland können als chronisch eingestuft werden, was die Wahrscheinlichkeit des Behandlungserfolgs senkt (Brakemeier et al., 2012). Zudem haben ca. 50% aller Patienten mit chronischer Depression auch eine Persönlichkeitsstörung (Brakemeier et al., 2012). Was macht die Depression mit dem Menschen Das Störungsbild Depression kann für die betroffene Person schwerwiegende Folgen haben. Suizidalität ist eine potenziell lebensbedrohliche Konsequenz, da depressive Menschen ein erhöhtes Risiko haben, Selbstmordgedanken zu entwickeln und suizidale Handlungen zu begehen. Zudem treten oft Komorbiditäten auf, was bedeutet, dass Depressionen häufig gemeinsam mit anderen psychischen oder physischen Erkrankungen auftreten, was die Behandlung komplexer macht. Die damit verbundene Isolation, möglicherweise sogar Scheidung und Einsamkeit, ist ein weiteres ernstes Problem, da depressive Menschen oft Schwierigkeiten haben, soziale Kontakte aufrechtzuerhalten oder sich in sozialen Situationen wohlzufühlen. Dies kann zu einem Verlust von Freundschaften und Beziehungen führen. Darüber hinaus besteht ein erhöhtes Risiko für den Verlust des Arbeitsplatzes, da depressive Symptome die Arbeitsleistung beeinträchtigen können. Der Verlust des Jobs kann wiederum zu finanziellen Schwierigkeiten und einem weiteren Anstieg der depressiven Symptome führen, was den Teufelskreis verstärkt. Schließlich besteht die Gefahr der Chronifizierung, wenn die Depression unbehandelt bleibt oder nicht angemessen behandelt wird. Chronische Depressionen können langfristig zu schweren Beeinträchtigungen der Lebensqualität führen und eine intensive und langfristige Behandlung erfordern. Insgesamt zeigt sich, dass Depressionen für die betroffene Person nicht nur eine erhebliche psychische Belastung darstellen, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf alle Bereiche ihres Lebens haben können. Was macht die Depression mit der Gesellschaft / der Menschheit? Es ist wichtig zu verstehen, dass Depressionen keine neue Krankheit sind, die erst vor kurzem aufgetreten ist und plötzlich Auswirkungen auf die Gesellschaft hat, ähnlich wie das Coronavirus. Vielmehr gibt es Depressionen und andere psychische Störungen seit langem, jedoch wurden sie erst in den letzten Jahrzehnten vermehrt in der Öffentlichkeit bekannt. Die Psychologie als Wissenschaft ist relativ jung, weshalb die Forschungsergebnisse und Erkenntnisse über psychische Erkrankungen noch nicht lange bekannt sind. In den letzten Jahren haben Erkrankungen wie Depressionen jedoch mehr Aufmerksamkeit und Verständnis von der Bevölkerung erhalten. Dies könnte dazu geführt haben, dass viele Menschen ihre Werte und Ziele hinterfragt oder sogar verändert haben. Möglicherweise wird das zunehmende Wissen über psychische Störungen einen Wandel in der Gesellschaft bedeuten. Es könnte dazu beitragen, dass Menschen mehr auf ihre Work-Life-Balance achten und eventuell ihren Freizeitspaß der großen Karriere vorziehen. Dies sind jedoch alles Spekulationen. Ein gesellschaftlicher Wandel wird durch viele Faktoren beeinflusst, einschließlich der Sorgen der jüngeren Generationen über den Klimawandel und finanzielle Belastungen wie steigende Lebensmittelkosten und Steuern. Dennoch kann man sagen, dass der zunehmende Wissenszuwachs über die menschliche Gesundheit auch eine Veränderung in der Gesellschaft mit sich bringt, ähnlich wie die Auswirkungen der Forschungsergebnisse über Tabakkonsum auf das Rauchverhalten. Folgen der hohen Prävalenz von Depressionen (und Burnout) für den Arbeitsmarkt, das Gesundheitssystem und die Wirtschaft Die Fehltage am Arbeitsplatz durch psychische Erkrankungen steigen (Brandt, 2023): 2001 wurden noch knapp 100 Fehltage durch psychische Erkrankungen auf 100 Versicherte verzeichnet. Im Jahr 2023 waren es schon 301 Fehltage durch psychische Erkrankungen auf 100 Versicherte. Die meisten Fehltage fallen dabei auf das Störungsbild Depression. Die steigenden Fehltage durch psychische Störungen sind ein kontroverses Thema: Mehr Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen führen zu einer erhöhten Sichtbarkeit dieser Problematik, was sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben kann. Auf der positiven Seite könnte dies dazu führen, dass sich mehr Menschen über psychische Störungen informieren und ein besseres Verständnis für Betroffene aufbringen können. Dies könnte zu mehr Akzeptanz am Arbeitsplatz führen, sodass sich Betroffene für ein Fehlen aufgrund einer psychischen Störung nicht mehr rechtfertigen müssten, insbesondere wenn die Symptome nicht offensichtlich sichtbar sind. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass einige Menschen versuchen, leichter an Krankschreibungen zu gelangen, indem sie sich beim Hausarzt als stark psychisch belastet darstellen. Die Überprüfung subjektiver Symptome durch Ärzte gestaltet sich schwierig. Psychische Störungen könnten möglicherweise zunehmend verharmlost werden, was fatal wäre für diejenigen, die tatsächlich stark betroffen sind. Mögliche Folgen für das Gesundheitssystem sind hohe Kosten für Krankenkassen, da die Psychotherapie und gegebenenfalls stationäre Aufenthalte teuer sind. Die Nachfrage nach Psychotherapie übersteigt derzeit das Angebot, da es zu wenig niedergelassene Therapeuten gibt und eine Obergrenze von Kassensitzen besteht, die durch die Kassenärztliche Vereinigung festgelegt ist. Dies führt zu langen Wartezeiten für Betroffene und möglicherweise zu einer Chronifizierung der Depression. Implikationen Eine frühzeitige Aufklärung über psychische Störungen ist von entscheidender Bedeutung, Diese Aufklärung sollte bereits in der Schulzeit beginnen und sich auch in die Ausbildung integrieren, beispielsweise durch Seminare. Es geht dabei um die Vermittlung von Wissen über psychische Störungen im Allgemeinen, einschließlich der Risiko- und Schutzfaktoren, sowie um die Kenntnis von verfügbaren Therapieangeboten und Möglichkeiten, sich Hilfe zu holen. Die Ziele dieser frühzeitigen Aufklärung sind vielfältig: Zum einen soll die Prävalenz psychischer Störungen nicht weiter steigen oder sogar reduziert werden, indem gezielt auf Prävention gesetzt wird. Darüber hinaus soll auch die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen verringert werden. Ein weiteres Ziel ist es, dass Betroffene sich früher trauen, Hilfe zu suchen, und dass sie ihre Erkrankung schneller erkennen, bevor sie sich chronifiziert. Dadurch kann eine schnellere Hilfe ermöglicht und die Behandlung vereinfacht werden. Insgesamt trägt eine frühzeitige Aufklärung über psychische Störungen dazu bei, das Bewusstsein zu schärfen, die Sensibilität zu erhöhen und letztendlich die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Literaturverzeichnis: Beesdo-Baum, K., & Wittchen, H.-U. (2021). Depressive Störungen: Major Depression und Persistierende Depressive Störung (Dysthymie). In Klinische Psychologie & Psychotherapie (3. Auflage). Springer. Borsboom, D. (2017). A network theory of mental disorders. World Psychiatry, 16(1), 5–13. https://doi.org/10.1002/wps.20375 Brakemeier, E.-L., Schramm, E., & Hautzinger, M. (2012). Chronische Depression. Hogrefe. Brandt, M. (9. Oktober, 2023). Fehltage wegen kranker Psyche erreichen neuen Höchststand [Digitales Bild]. Zugriff am 30. Januar 2024, von https://de.statista.com/infografik/18813/krankschreibungen-wegen-psychischer-erkrankungen-in-deutschland/ Dilling, H., & Freyberger, H. J. (2019). Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen (9. aktualisierte Auflage). Hogrefe. Hamilton, J. P., Glover, G. H., Bagarinao, E., Chang, C., Mackey, S., Sacchet, M. D., & Gotlib, I. H. (2016). Effects of salience-network-node neurofeedback training on affective biases in major depressive disorder. Psychiatry Research: Neuroimaging, 249, 91–96. https://doi.org/10.1016/j.pscychresns.2016.01.016 Hautzinger, M. (1998). Depression. Hogrefe. Infografik: Fehltage wegen kranker Psyche erreichen neuen Höchststand. (2023, Oktober 9). Statista Daily Data. https://de.statista.com/infografik/18813/krankschreibungen-wegen-psychischer-erkrankungen-in-deutschland Jacobi, F., Wittchen, H.-U., Holting, C., Höfler, M., Pfister, H., Müller, N., & Lieb, R. (2004). Prevalence, co-morbidity and correlates of mental disorders in the general population: Results from the German Health Interview and Examination Survey (GHS). Psychological medicine, 34, 597–611. https://doi.org/10.1017/S0033291703001399 Kaiser, R. H., Andrews-Hanna, J. R., Wager, T. D., & Pizzagalli, D. A. (2015). Large-Scale Network Dysfunction in Major Depressive Disorder: A Meta-analysis of Resting-State Functional Connectivity. JAMA Psychiatry, 72(6), 603. https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2015.0071 Menon, V. (2011). Large-scale brain networks and psychopathology: A unifying triple network model. Trends in Cognitive Sciences, 15(10), 483–506. https://doi.org/10.1016/j.tics.2011.08.003 Moncrieff, J., Cooper, R. 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